Jede Stadt mit einer langen Geschichte ist ein Palimpsest.
Was ist das, ein “Palimpsest”? Antwort: Ein mittelalterliches, wenn nicht noch älteres Buch oder Manuskript, über dessen abgeschabte, abgewaschene Seiten wieder und wieder geschrieben wurde, weil Rohstoffe (Papyrus, Pergament, Papier) zu ihrer Zeit kostbar waren. - Vermeintlich kostbarer als der alte, originäre Inhalt, welcher neuen Ideen weichen musste. Gelehrte Entscheidungen, die man heute nicht selten gerne rückgängig machen würde.
Christliche Mönche überschrieben zum Beispiel im 13. Jahrhundert die einzig bekannte Kopie von Archimedes “Über schwimmende Körper” mit einem Euchologion (Liturgien verschiedener Ostkirchen); eine der ältesten Himmelskarten, angefertigt durch Hipparchos von Nicäa (ca. 190-120 v. Chr.), lag verborgen unter dem “Codex Climaci Rescriptus” (einer vergleichsweise unwichtigen syrischen Testsammlung); hinter Briefen des hl. Hiernoymus entdeckte Barthold G. Niebuhr 1816 Gaius “Institutiones”, das vielleicht erste Lehrbuch für Jurastudenten im römischen Reich.
Ja, auch Städte sind - zumindest metaphorisch - Palimpseste. Gebilde, die aus ihren eigenen Ruinen wieder aufgebaut wurden, wieder und wieder überschrieben, gnadenlos von neueren Schichten ersetzt. Man denke an Dresden nach dem zweiten Weltkrieg; an Lissabon nach dem verheerenden Erdbeben plus Tsunami 1775; Hiroshima und Nagasaki nach Fat Man und Little Boy; an die Stadtbrände von Rom (64 n. Chr.), London (1666) und San Francisco (1849-51).
Weniges, was Menschen gebaut haben, ist so langlebig, so widerstandsfähig, so niemals fertig und in ewiger Renovierung begriffen wie Städte. Ihre hundertfachen Schalen gleichen einer architektonischen Zwiebel, die immer wieder austreibt, sich verdickt, verbreitert. Jeder Anbau und jede Erweiterung, jeder Verlust und jeder Verfall, alles ist gespeichert. Manch abrissreife Bruchbude hält sich wie Unkraut zwischen Wolkenkratzern, eine zähe Stadtvilla steht unter Denkmalschutz, hier und da ein kleiner Park, den die Gemeinde nicht hergeben will. Zeugen dieser Art verstecken sich leicht. Als Zeichen der Gewordenheit, der Gewesenheit bleiben sie nicht selten unsichtbar, ungelesen im und als Alltag der Bewohner, die, abgelenkt durch auf die Zukunft geeichte Sorgen und Nöte, sie ignorieren.
Jerusalem ist dahingehend nicht anders. In der Old City leben circa 40.000 Menschen. Es gibt Schulen, Kinderspielplätze, Metzgereien, Wohnzimmer, Gärten, Ratten und Klimaanlagen. Überall wird gelernt, gespielt, gestritten, angepflanzt, gefressen und gekühlt. Und doch wird jeder, der die Altstadt durch eines der sieben Tore betritt, sofort in die Wahrnehmung der Singularität hineingenötigt.
Märkte, so bunt wie in Marrakesh, Straßen, so eng wie in Venedig, Ikonen, so dicht wie in Varanasi.
Im spirituellen Nabel aller drei abrahamitischen Religionen darf kein Haus gebaut werden, ohne dass vorher ein Team von Archäologen den Bauplatz frei gibt.
Wie oft dies bei einer so alten Stadt, in dem fast jeder Quadratmeter irgendjemandem heilig ist, vorkommt, kann man sich denken.
Obige Aussage muss hier spezifiziert werden:
Die Altstadt Jerusalems ist ein religiöses Hyper-Palimpsest.
Über babylonischen Heiligtümern stehen persische. Über persischen hellenistische. Über hellenistischen römische. Über römischen stehen muslimische Kultstätten. Und neben diesen wiederum armenische, koptische, katholische und natürlich jüdische.
Wer die Karte dieses Hyper-Palimpsests zum ersten Mal studiert, wird verblüfft von der Stauung an symbolisch aufgeladenen Orten. Würde man nur einen davon in die Luft sprengen, müsste der Akt innerhalb von weniger als 24 Stunden eine Krise von weltpolitischem Ausmaß heraufbeschwören. Wenn nicht — sollte eine Atommacht verantwortlich sein — unmittelbar an den Rand des Dritten Weltkriegs führen.
Unter solchen Potentialen der Zerstörung liegen beinah komische Prozesse der Verwaltung. Die Besitzverhältnisse sind so kompliziert, dass zum Beispiel eine Holzleiter, welche am Portal der Hauptfassade der Grabeskirche lehnt, nicht entfernt werden darf. Längst überflüssig geworden, verschafften sich im 19. Jahrhundert Mönche so außerhalb behördlicher Öffnungszeiten Zutritt zu den heiligen Hallen.
Die sechs Konfessionen, welche die Grabeskirche zu verschiedenen Anteilen beanspruchen, sind sich - wohl ewig - uneins, wer das Recht hat, die Leiter wegzuräumen. (1)
Wie dieses absurde Beispiel illustriert, hat Jerusalem als religiöses Hyper-Palimpsest nicht nur ein äußerst verworrenes geographisches Register. Immer mit den Orten verbunden, sind die Geschichten, welche dort erzählt werden. Und diese sind mindestens genauso verwinkelt und laden zum Verloren-gehen ein, wie die Stadt als selbst.
Nur einige Beispiele: Wo fand das letzte Abendmal nun wirklich statt? Auf dem Ölberg oder bei der heuten Sancta Maria beziehungsweise der Hagia-Sion-Basilika, wo man - oh Wunder - auch das Grab König Davids fand.
Wann kommt der jüdische Messias endlich wieder? Ist nicht Mohammed der wahre und einzige Prophet? Und wenn ja, wieso legten die Muslime einen Friedhof vor dem Löwentor an, um die Ankunft Jesu in Jerusalem zu verhindern (sie glaubten, warum auch immer, er könne nicht über Gräber laufen).
Die beim Gebet vor und zurück wippenden orthodoxen Juden sehnen sich ins Paradies, verortet genau hinter der Klagemauer, und provozieren die Muslime immer wieder, indem sie den Tempelberg hinaufsteigen.
In der erwähnten Grabeskirche streiten sich die orthodoxen Konfessionen (griechisch, russisch, syrisch, äthiopisch) vor allem an Ostern — sogar handgreiflich! — um Gebetsplätze für ihren “Gott der Liebe”, weil ihre Termine zusammenfallen und nicht genug Platz für alle ist.
“Pray for Peace in Jerusalem” heißt es auf einer der beliebtesten Ansichtskarten.
Für mich klingt das wie ein allzu frommer Wunsch, der sich mit Beten allein nicht erfüllen wird.
(1) Dies zeigt mit viel Humor die Dokumentation “Im Haus meines Vaters sind viele Wohnungen” (2010) von Hajo Schomerus.
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