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Essay

"Er denkt in Brüchen, weil die Realität brüchig ist, und findet seine Einheit durch die Brüche hindurch, nicht indem er sie glättet."

Adorno, Der Essay als Form

Der Tod
kennt keine Unterschiede

(2020)
16 Seiten

Image by Mathew MacQuarrie

Angst, wahre Angst richtet sich niemals auf das Konkrete. Schlangen, Bären, enge Räume oder die Angst vor Clowns, wie sie bei mir in der Kindheit durch Stephen Kings Es ausgelöst wurde, können immer nur an der Oberfläche kratzen. Angst, wahre Angst haben wir immer nur vor dem Unbekannten. Vor der Zukunft. Vor der Dunkelheit. Vor Verlust. Vor uns selbst. Das schlechthin Unbekannte jedoch ist der Tod. Niemand ist je zurückgekehrt. Egal, was das Christentum oder sonst wer behaupten mag. Gleichzeitig ist die Angst vor dem Tod nichts, was wir tagtäglich spüren. Sie ist begraben unter all den Lebensereignissen, die uns von Moment zu Moment beschäftigen.

(...)
 

Der hellste Punkt der Welt

(2022)

1 Seite

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Marcel war schlecht vom Lesen. Wir fuhren auf Paris zu und das Orange glühte uns bereits entgegen. Ich war müde und bat ihn, mich zu unterhalten. Es blitze in seinen weichen Philosophenaugen, in die ich mich verliebt habe, bevor wir uns kannten.
„Weißt Du, wo sich der hellste Punkt der Welt befindet? Kaum jemand kommt darauf: auf dem Dach einer Pyramide. Genauer: auf dem Luxor, einem Casino in Las Vegas.
Auf dessen Spitze sitzt eine Strahlenkanone und feuert nach Sonnenuntergang in die Dunkelheit. Kilometerhoch reicht das Spektakel. Man sieht den Leuchtstab von der sie umgebenden Wüste aus, so weit, bis die Erdkrümmung es verhindert. Insekten verwechseln das Casino mit der Sonne. Um den Strahl hat sich ein ganzes Ökosystem von Jäger-Beute-Verhältnissen gebildet. Es macht Fledermäuse fett, die Katzen fett machen, die Kojoten fett machen. 
Würden die Bewohner der Glücksstadt – bei weitem nicht nur spielsüchtige Touristen, silikonbebrüstete Stripperinnen und weiße Tiger – sie verlassen, entkämen sie dem Lichtdom. Sie sähen unsere Milchstraße von ihrer Wüste aus. Sie sähen einen dunklen 3D-Kosmos, der durch seine Dimension zu sprengen droht, was die Bürger von Las Vegas für die Grenzen ihrer Imagination halten. Ganz wie Kant es 1790 vorhergesagt hat, würden sie erkennen, wie klein sie sind und wie groß, wie unvergleichlich groß der schüchtern funkelnde Rest.
Aber das tun diese Städter nicht. Genauso wenig wie wir, schätze ich. Wovon sie geblendet werden, ist nicht das Paradox des Erhabenen, das in der Wüste wartet. Es ist Luxor, und all die Millionen viel kleineren, schwächeren Lichter, die um und in dem Gebäude blinken. Im Gegensatz zu ihren Vorfahren werden sie innen geblendet, abgelenkt vom Meer der Vergnügungen, von Slot-Maschinen, von Stripperinnen, von weißen Tigern.“
Die Stadt kam in Sicht. Sterne sah ich keine.

Farbenkampf als Selbstbehauptung:
Barnett Newmans Mystik „Absoluter Emotion“ am Beispiel von Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV


(2017)

21 Seiten

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Am 06. Dezember 1948, kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges, rief Barnett Newman eine „Neue Mystik“ aus. Mit diesem Postulat sollte eine neue Ära der Malerei eingeleitet werden. Eine Ära, die sich nicht mehr gefangen nehmen lassen sollte durch die Geschichte der Malerei, die zugleich die Geschichte eines immer wieder gebrochenen Versprechens sei. Erbauung, Verzückung, Ekstase: die ästhetische Erfahrung war versprochen worden. Nur eines – so der Trugschluss – hätte dieses Versprechen einlösen können: die Schönheit. 

Verliebt in deren Bewunderung, war die figürliche Malerei nicht in der Lage gewesen, sich von der geschichtlichen Verheißung der Schönheit loszusagen. Nur so hätte das Pendel zugunsten von etwas anderem ausschlagen können: dem Sublimen oder Erhabenen. Doch durch das stete, unentschlossene Hin-und-Her wurde – so Newman – die alteuropäische Malerei zwischen den beiden Polen zerrieben. Sie wurde steril. Sie hing so fest in der Antiquiertheit ihres eigenen Schaffens, dass keine neuen Bilder mehr entstehen konnten. Neue Bilder: solche ohne Referenz auf die Geschichte der Malerei, ohne ihre Huldigung der Natur.

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Warum Streit?
(201)
75 Seiten

Image by Micaela Parente

Alle kennen ihn, aber keiner mag ihn. In allen sozialen Beziehungen, sei es Familie, Beruf, Freundschaft oder Partnerschaft, begegnet er uns und

wir begegnen ihm: dem Streit.

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Lacans Dunkelkammer

(2015)

1 Seite

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Es kann nicht als verbürgt gelten. Die nacheinander befragten ‚Zeugen’ (Teilnehmer) wurden nach ihren Erfahrungen im Seminar von Jaques Lacan gefragt. Interviewt, würde man sagen. Sie alle berichteten einhellig, wie beeindruckt sie von Sprache wie (wenn nicht noch mehr) von seiner Erscheinung gewesen waren. Wer Lacan selbst gehört oder aber auch nur Mitschnnitte seiner Vorträge gesehen hat, weiß, was und wieviel mit ‚beeindruckt’ hier gemeint ist. Nicht weniger, als: eine Art Erleuchtung. Was, vornehmer ausgedrückt, auch als Epiphanie verzeichnet werden kann, ist in diesem Fall ein kurzer Augenblick der Einsicht, was die Worte des Meisters wohl zu bedeuten hätten. Wie sie sich, mit Unterströmung und Tiefenstruktur, zusammen ins Verhältnis setzen ließen. Ganz zu Schweigen sowohl von historisch-philosophisch gewonnener Ableitung, wie von methodisch-theoretischer Anleitung. Aber: trotz all ihrer verstreuten Unvollständigkeit, ergab sich genug Reibung an und in ihnen, um zu blitzen. Wie ein kurzer  Strahl in kalte Räume dringt, um diese für einen Augenblick zu ‚erleuchten’, um das Mobiliar – oder zumindest dessen Umrisse und ‚Schatten’ – kurz erkennbar werden zu lassen, hatten die Schüler Lacans seine Lehre verstanden. Man musste nun nicht mehr schmerzhaft gegen schwere Gegenstände in der riesigen Dunkelkammer stoßen; auch war es möglich – wenn auch manchmal mit etwas Tönen und Rufen – nicht gegen die anderen Leute zu stoßen, welche sich ebenfalls relativ orientierungslos- oder voll (zu messen daran, ob das Wasserglas nun halb leer ist oder nicht) durch die Gänge und Zimmer bewegten.
So traten aus dem Seminar-Raum eine Handvoll Schüler. Von Geistesblitzen erleuchtet und im Dunklen gelassen. Inspiriert und frustriert von diesem mächtigen ‚Eindruck’, griffen sie zum Einzigen, was der Meister ihnen in der kurzen Zeit seines Sprechens gegeben und – noch mehr als seine Weisheiten, Sentenzen und Lehren – ihnen geschenkt hatte: einander. Sie mochten nun zusammen experimentieren, ob sie die chemische Reaktion unter sich erneut zu Stande brächten. In diesem wilden, experimentierfreudigen Diskurs stellte sich etwas heraus. Ob es ihnen einzeln und unabhängig voneinander oder dann im Kollektiv klar wurde, lässt sich schwer sagen, ist aber auch zunächst ganz unerheblich: jeder und jede der Anwesenden hatte an einem anderen Punkt in Lacans Dunkelkammer gestanden. Das Gelernt-Instinktive ihres intellektuellen Orientierungsvermögens war, um von der räumlichen Metapher wieder in die temporale Verlaufskurve zurückzuschalten, ab jeweils unterschiedlichen Zeitpunkt eingerastet. Hatte das eine Verständnis sein Licht verbraucht, konnte der nächste Kopf die Staffel übernehmen. Die Worte des Denkers waren nicht für alle jederzeit verständlich gewesen; der Ort des Seminars hatte den Zweck, das Kollektiv auf die darin enthaltenen Wahrheiten anzusetzen. Dann galt es zu hoffen, dass jeder alleine eine so große Portion mit an den gemeinsamen Tisch bringen würde, dass die Ration nachher für alle reichen konnte. Erst fünfzig Lacan-Schüler ergeben einen ganzen. 

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