von Jens Lubbadeh
Heyne 2019, 384 S.
14,99€

Plot
“Transfusion” spielt in unserer Gegenwart und dreht sich um die Geschichte der Iljana Kornblum (39), ihres Zeichens stellvertretende Forschungsleitung beim Pharma-Giganten Astrada (Anspielung auf AstraZeneca?). Zusammen mit ihrem Kollegenfreund Mark(us) Jacobs hat sie ein Heilmittel gegen Alzheimer entwickelt, welches den ausgefallenen Namen Binimi trägt, mit dem auch ihr Vater sein Gedächtnis wiedererlangen konnte.
Zu Beginn des Buches werden in einem Container aus Mumbai am Hamburger Hafen mehrere Mädchenleichen gefunden. Auf ihren Plüschtieren ist das Logo von Astrada zu sehen und so bricht ein Skandal los, der die Handlung initial zündet. Im Konzern ist vor allem der CEO Erik Freimuth mit der Schadenskontrolle befasst und wimmelt die Polizei ab, die Iljana noch auf das Firmengelände kommen sieht, nachdem sie sich durch die von Protestkundgebung geschoben hat.
Es dauert nicht lange, bis die Protagonistin auf die fragwürdigen Produktionsbedingungen des Wundermittels stößt. Der Konzern betreibt in Indien Blutfarmen, in denen kleine Mädchen für ihr besonders wunderproteinreiches Plasma “gemolken” werden; Iljana stellt Mark Jacobs zur Rede, der seine Mitwisserschaft gesteht, aber den CEO Freimuth verantwortlich macht. Um aus dem ethischen Dilemma — wenn wir die Blutfarmen schließen, werden die Spenderinnen als Sexsklavinnen verkauft und Millionen Menschen verlieren den Zugang zum lebensrettenden Medikament —, hecken sie einen Plan aus, um den CEO zu stürzten. Sie fliegt nach Indien, beschafft Beweise.
Dann kommt der Twist.
In der Sitzung überzeugt Mark Jacobs mit Hilfe von der bis dahin ahnungslosen Iljana den Aufsichtsrat, Freimuth abzusägen und stattdessen ihn zum CEO zu krönen. Er ködert das Board außerdem mit “Projekt 150” — einem neuen Wirkstoff, der die Lebensspanne auf 150 Jahre erhöht und gleichzeitig die Jugend zurückbringt. Der Coup gelingt. Als neuer Chef entpuppt sich Mark Jacobs, der zusehends jünger wird, als Monster. Die Blutfarmen bleiben nicht nur offen, sondern er eröffnet sogar neue, diesmal in Russland. Für “Projekt 150” müssen, so findet Iljana bald heraus, Säuglinge “angezapft” werden, weil nur das sehr junge Blutplasma ausreichend wertvolle Proteine enthält, die zur Verjüngung führen. Iljana beschließt, zur Whistleblowerin zu werden und beginnt eine geheime Zusammenarbeit mit Klaus Mertens vom SPIEGEL. Doch Jacobs kommt ihrem Verrat auf die Schliche und injiziert Iljana “Seneszenz”-Wirkstoffe, die sie rapide altern lassen und bei ihr neben sonstigem körperlichem Verfall Demenz hervorrufen.
Beim Kampf mit Jacobs hängt um Iljanas Hals nun eine tödliche Uhr. Wird sie ihren ehemaligen Kollegen aufhalten können?
Aus Gründen der Fairness endet meine Zusammenfassung an diesem Punkt. Wer wissen will, wie es ausgeht, soll selber mit Spannung lesen dürfen.
Figuren
Bis auf den (sehr gelungenen) Anfang des Thrillers, in dem einige Zollbeamte die Mädchenleichen finden, ist die Geschichte fast zur Gänze aus einer Perspektive mit personaler Fokalisierung (3. Person singular) geschrieben (Ausnahmen bleiben Einsprengsel).
Iljana Kornblum ist eine Karrierefrau, alleinerziehend (ihre vierjährige Tochter Marie spielt im Plot eine eher untergeordnete Rolle) und getrieben von dem Wunsch, der Menschheit als konzerninterne Forscherin einen Gefallen zu tun. Ihre Motivation ist zu jedem Zeitpunkt klar: das Wohl von Patienten, inklusive das ihres Vaters. (Dass sie ein “fotographisches Gedächtnis” hat und, wenn der Plot es erfordert, in ihren Erinnerungen wie in einem Buch lesen kann, war mir zu hollywoodsherlockhaft.)
Verkompliziert wird diese Ausgangslage nur an den Stellen, wo das Buch ethische Dilemmata schildert. Bei Iljana Kornblum steht das Problem im Vordergrund: Was ist für die minderjährigen Spenderinnen in Indien besser: Blut abgezapft zu bekommen, was zu Entwicklungsverzögerungen und anderen gesundheitlichen Einschränkungen führt, oder von ihren bettelarmen Familien an irgendwelche Sexsklavenhändler verkauf zu werden? Das Leiden von armen Kindern in Kauf nehmen und dafür Millionen wohlhabenden Kranken helfen?
Leider sieht der Plot einen etwas billigen Ausweg - die synthetische Herstellung der Wunderproteine — vor, was das Dilemma ziemlich schnell entschärft und das Ende m. A. nach zu stark vorwegnimmt. Damit nimmt der Autor seiner Protagonistin Tiefe, wie er sie zu schnell in eine offensichtliche Lösung ihrer inneren Widersprüche entlässt.
Mark Jacobs, der sich circa ab Mitte der Geschichte zum Bösewicht mausert und so Erik Freimuth überraschenderweise ersetzt, finde ich einigermaßen gelungen. Mit ihm ist der interessanteste Twist verbunden, den das Buch zu bieten hat. Gleichzeitig bleibt seine Motivation mir zu einseitig. Er will Macht, Jugend, seine Reputation beschützen und den Menschen eigentlich nur als Sekundäreffekt helfen. Nachdem er sich als Schurke herausgestellt hat, heiligt der Zweck die Mittel, alle anderen werden in Freund/Feind bzw. nützlich/nicht-nützlich aufgeteilt, und, taadaa, fertig ist der Antagonist. Sich an solch recht simplen Schemata zu bedienen, finde ich bei einem Thriller nicht verwerflich. Klare Rollen, hohe Geschwindigkeit, begrenzte psychologische Tiefe — man weiß woran man ist, vergleichbar mit deutscher Hausmannskost.
Die meisten anderen Charaktere bleiben für mich eher Pappaufsteller.
In Iljanas familiärem Umfeld:
Ihre Tochter Marie ist 4 Jahre alt spielt so gut wie keine Rolle. Iljanas Ex-Mann ist hilfreicher Zubringer (kann sie bei Krankheit diagnostizieren, zaubert sogar eine (Waffe aus dem Ärmel wenn nötig), mehr aber auch nicht. (Die Szene, in dem die beiden über ihre gescheiterte Ehe reden, finde ich oberflächlich und irgendwie unglaubwürdig; Schuster, bleib bei deinen Leisten). Ihr Vater kommt noch am nähesten an etwas Tiefe, da er sie an einer wichtigen Stelle verrät (fand ich nicht glaubwürdig) und eine jüdische Migrationsstory im Hintergrund hat.
In Iljanas beruflichem Umfeld:
Über Mark Jacobs habe ich schon gesprochen. Erik Freimuths Namen hatte ich schnell vergessen; der Aufsichtsrat besteht aus austauschbaren Namen, Kurzbeschreibungen; Celine, die zweite Whislteblowerin wird mit zwei Sätzen abgetan.
Insgesamt gefallen mir die Randrandfiguren am besten:
Klaus Mertens vom SPIEGEL — über ihn hätte ich gerne mehr gewusst, aber er ist vor allem eine Actionfigur. Was schade ist, da er mit seiner Hartnäckigkeit in den Kontaktversuchen als einer der wenigen ein eigenes Leben zu haben scheint.
Am wirklich besten sind allerdings die Nebenfiguren vom Anfang des Romans. Die Hafenarbeiter und die ZollbeamtInnen, da muss ich dem Autor ein wirkliches Kompliment machen. Nicht nur ist der Job als solcher spannend, sondern der Slang, die Wetten, die Gesprächsfetzen versprühen eine fremde Echtheit, von der ich gar nicht sagen kann, warum sie solchen Charme besitzt.
Um bei einer Agentur zu landen, muss der Anfang eines Romans immer hochglanzpoliert sein, mehr stilistisch durchgearbeitet als, sagen wir, die Mitte. Ist es das, was der Autor hier getan hat? Wenn ja, dann finde ich das beeindruckend.
Stil
Besonders an diesem Thriller ist die stilistische Schlichtheit. Es gibt so gut wie keine Analogien oder Metaphern. Immer, wenn das der Fall ist, weiß man: hierbei handelt es sich um U-Literatur. Die Sätze sind meist kurz, verständlich und für meinen Geschmack zu simplistisch.
(“Sie hatte eine Idee. Sie kramte in ihrer Tasche und fand ein ledernes Portemonnaie. Sie suchte den Ausweis darin. (...) Sie war Iljana. Sie griff wieder zum Spiegel. Sie war es. Sie erschrak.”)
Man merkt, finde ich, dass der Autor aus der Journalie kommt und sich auch vor dem ein oder anderen Klischee nicht fürchtet. (Die männlichen Autoritätspersonen sind meist gefasst, kontrolliert, kalt; Iljana fühlt sich zu verschiedenen Zeitpunkten zu Mark Jacobs, Erik Freimuth und ihrem Ex “hingezogen”).
Stilistisch schwach finde ich vor allem die Dialoge. Die Sprecher sind für mich fast durch die Bank weg ununterscheidbar. Eine russische Kinderärztin klingt wie ein indischer Aufsichtsratsvorsitzender, ein Klinikchef wie eine Forschungsassistentin, ein russischer Dissident wie der ihn festsetzende Polizist. Die Bildungsniveaus der Akteure machen kaum Unterschiede. Ihr Innenleben leidet unter der Missachtung unserer guten alten “show don't tell”-Prämisse.
Insgesamt kann man zusammenfassen: Dass es sich um einen leicht unterdurchschnittlichen Thriller handelt, bleibt stilistisch auf jeder Seite spürbar.
Thema/Sujet
Die Prämisse des Buches beruht auf Forschungsergebnissen, die Mitte der 2000er für Furore sorgten. Einige der Ergebnisse konnten 2020 repliziert werden.
Wer mehr wissen will:
Ob uns die Wissenschaft je zu einem Jungbrunnen verhelfen wird, ist ein spannendes Thema. Die medizinethischen Probleme der Heilung von Krankheiten auch. Es gibt Stellen, an denen die Geschichte hier etwas tiefer wird. Zum Beispiel die Szene, in der Iljana die indische Blutfarm besucht und feststellt, dass die Kinder dort recht gute Lebensbedingungen geboten bekommen. Oder die Erinnerung von Mark Jacobs, wie er auf die verjüngenden Effekte des Blutes von Jungmäusen stößt und so die Hoffnung der Menschheit aufblitzen sieht, durch Technologie den zivilisatorischen Fortschritt anzuschieben.
Insgesamt jedoch wird die Pharma-Welt, in der die Geschichte spielt, von Geld, Macht und Gier bestimmt. Der Forschungsalltag hat so gut wie keine Bedeutung. Der Konzern, um den es hier geht, kommt mir sehr klein vor, da es kaum Bürokratie oder andere Abteilungen zu geben scheint. Und obwohl verschiedene Player der Gesundheitsökonomie auftauchen, werden sie zu schnell und schematisch gegeneinander ausgespielt, um den Plot so zügig wie möglich voranzutreiben.
Daher kommt mir das o.g. Thema letztlich zu kurz.
Fazit
Bei “Transfusion — sie wollen dich nur heilen” handelt es sich um einen schnellen, plot-getriebenen Medizinthriller ohne größeren stilistischen Anspruch. Die thematischen Prämissen versprechen dem Leser eine gehaltvolle Auseinandersetzung mit medizinethischen Dilemmata (ist Heilen auf Kosten der Armen okay?). Außerdem will der Text eine transhumanistische Aussicht auf die Technologiepotentiale der Zukunft bieten (ist ewige Jugend möglich?). Beides löst die Geschichte jedoch nur bedingt ein. Für das Dilemma wird eine einfache Lösung präsentiert und vor der ewigen Jugend durch Krebs gewarnt.
Die Charaktere haben mich nicht begeistert. Die zentrale PoV-Figur hat so gut wie keine charakterlichen Fehler und ist immer bemüht, das Beste/Richtige zu tun. Eine Entwicklung in ihrer Persönlichkeit wird höchstens ganz am Ende angedeutet, was insgesamt dazu führt, dass ich ein neutrales Verhältnis zu ihr habe, was heißt: gar keins. Die anderen Figuren bleiben für mich meist motivational eindimensional und psychologisch flach (mit Ausnahme der Zollbeamten am Hamburger Hafen, die aber nur in den ersten zehn Seiten Erwähnung finden).
Der Stil ist auf schnelle Unterhaltung getrimmt (kurze Sätze dominieren), und so gut wie frei von klugen Analogien oder überraschenden Metaphern.
Das Thema ist für mich wenig mehr als ein Köder. Eine Kulisse, vor der die Action abrollen darf. Es soll nicht verraten werden, doch das Ende des Buches fühlt sich gehetzt an, weswegen viele Fragen für mich (zu) offen geblieben sind.
Gesamtwertung: 4 von 10 Punkten.
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