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Farbenkampf als Selbstbehauptung

Barnett Newmans Mystik „Absoluter Emotion“ am Beispiel von Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV (1969-70)


Vortrag gehalten an der Kunstakademie zu Münster

Kolloquium Kunst und Wissenschaft im Gespräch

Die moderne Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts ist wie keine andere eine Demonstration frei produzierender Einbildungskraft. Sie kann gänzlich neue, mit nichts zu vergleichende Systeme entwerfen, sie – und gerade sie – kann aber auch visuelle Erlebnisse eröffnen, die das betrachtende Subjekt, also unser Betrachter-Ich, vollends beherrschen und in denen unser Betrachter-Ich jede Gewissheit einer eigenen Position verliert. - Max Imdahl

Am 06. Dezember 1948, kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges, rief Barnett Newman eine „Neue Mystik“ aus. Mit diesem Postulat sollte eine neue Ära der Malerei eingeleitet werden. Eine Ära, die sich nicht mehr gefangen nehmen lassen sollte durch die Geschichte der Malerei, die zugleich die Geschichte eines immer wieder gebrochenen Versprechens sei. Erbauung, Verzückung, Ekstase: die ästhetische Erfahrung war versprochen worden. Nur eines – so der Trugschluss – hätte dieses Versprechen einlösen können: die Schönheit.


Verliebt in deren Bewunderung, war die figürliche Malerei nicht in der Lage gewesen, sich von der geschichtlichen Verheißung der Schönheit loszusagen. Nur so hätte das Pendel zugunsten von etwas anderem ausschlagen können: dem Sublimen oder Erhabenen. Doch durch das stete, unentschlossene Hin-und-Her wurde – so Newman – die alteuropäische Malerei zwischen den beiden Polen zerrieben. Sie wurde steril. Sie hing so fest in der Antiquiertheit ihres eigenen Schaffens, dass keine neuen Bilder mehr entstehen konnten. Neue Bilder: solche ohne Referenz auf die Geschichte der Malerei, ohne ihre Huldigung der Natur.


Nur in Amerika, der Neuen Welt, war es möglich, die alten Gefechte in den alten Gräben, die bloß noch Gräber waren, entscheidend zu beenden. Nur hier sollte es – so Newman – noch möglich sein, sie hinter sich zu lassen.


Am Ende seines genauso kurzen wie berühmten Pamphlets The Sublime is Now schreibt er:


Instead of making cathedrals out of Christ, man, or ‘life,’ we are making it out of ourselves, out of our own feelings. The image we produce is the self-evident one of revelation, real and concrete, that can be understood by anyone who will look at it without the nostalgic glasses of history.

In diesem Pathos steckt die Ambition der Malerei, ihr universeller oder universalistischer Anspruch: von allen und jedem verstanden zu werden. Sie allein steht außerhalb – der Geschichte, der Kultur, der Herrschaft, ja der Sprache insgesamt. Ihr Wollen und Drängen und Drücken zielt auf das, was Newman zuvor „Absolute Emotion“ nennt.


„Absolute Emotionen“ haben, wie er schreibt, den Charakter einer „revelation“, einer Erleuchtung oder Offenbarung durch das Reale, das Konkrete, das Unmittelbare. Die „absolute Emotion“ – und so begründet sich der universalistische Anspruch – eignet allen und jedem zu. Und mehr noch: man kann sich ihrer qua Malerei versichern.


Die entscheidende Frage ist dabei natürlich: wie? Wie soll so eine „Absolute Emotion“ aussehen? Wie erreicht man sie? Wie wird sie hergestellt, und wie sieht ihre innere Struktur aus?


Von dem Kunsthistoriker Max Imdahl kann man lernen, dass sich alle Bedeutungen eines Bildes einzig und allein in der direkten Auseinandersetzung mit ihm ergeben. Die Chiffren und allgemeinen Klassifizierungen mögen für die eine oder andere Gelegenheit – lies: Angeber- und Aufschneiderei – ausreichen. Für wirkliche Bestimmungsgründe jedoch niemals. Man ist auf die Einzelbetrachtung angewiesen. Allein hier lässt sich das nachgefragte Wie? von Newmans „Absoluter Emotion“ angehen.


Immer in dem Wissen, wie un- ja geradezu schwachsinnig es angesichts des universalistischen Anspruches dieser Mystik (in) der Newmans Version der Malerei erscheinen muss, biete ich sodann weniger als eine Analyse und mehr als eine Anekdote. Dieses Halbwesen von einer Beschreibung soll Hinweise auf das liefern, wie wir das Wie? der „Absoluten Emotion“ verstehen könnten.


Meine analytische Anekdote beginnt wie alle Geschichten: mit dem Zufall.


Von ihm motiviert, ging ich im Sommer 2014 durch die Neue Nationalgalerie zu Berlin. Es war eine dröge und fast durchweg mittelmäßige Ausstellung über ein Thema, das schnell vergessen war. Aber neben und mitten in dem ganzen Einerlei stach etwas heraus und packte mich. Ein Werk, das ich zwar kannte, aber keine Ahnung hatte, dass es gerade hier heute ausgestellt wurde: Who's Afraid of Red, Yellow and Blue IV.


Es ist Herz- und Schlussstück der ganzen vierteiligen Serie; und vielleicht das berühmteste von Barnett Newmans Werken, was schon dadurch angedeutet wird, dass Harold Rosenberg damit seine große Newman-Monographie einleitet.


Der durchschnittliche Museumsbesucher verbringt circa 30 Sekunden vor einem Werk moderner – oder irgendeiner – Kunst. An diesem langweiligen Tag in dieser langweiligen Ausstellung verbrachte ich nicht 30 Sekunden sondern knapp 30 Minuten vor diesem einen Bild. Später erfuhr ich, dass es an diesem Platz in der Nationalgalerie eine prekäre Geschichte hat.


Zum Anschaffungszeitpunkt wurde es von Boulevardzeitungen z.B. als „leere Leinwand mit einem Strich in der Mitte“[i] beschimpft, und, dramatischer noch, von einem gewissen Josef Nikolaus Kleer am 13. April 1982 einmal fast zerstört. Der 29-Jährige hatte seine Tat damals unter anderem damit gerechtfertigt, das Bild habe ihn verstört [sic] und ängstige[sic] die Deutschen.


Der Titel, man sieht, ist also Programm. Das Wort („afraid“) verweist auf eine Emotion, und das Bild weiß diese – durch den Gewaltakt bezeugt – auch auszulösen. Nicht wie mein Besuch in der Neuen Nationalgalerie, ist darin wohl kein Zufall zu sehen. So gab Newman 1965 zu Protokoll:


I give paintings titles actually because I think they have some meaning. I try in the title to create a metaphor that will in some way correspond to what I think is the feeling in them and the meaning of it.[ii]

Bedeutung, Metapher, Gefühl. Sie stehen in Who's Afraid of Red, Yellow and Blue IV in Wechselwirkung. Der Anschaulichkeit halber zu den letzten beiden Begriffen zuerst. Emotionen haben bei Newman eine besondere Bedeutung. Sie wollen oder sollen, wie gesagt, „absolut“ sein.


Am besten lässt sich erklären, wie genau das funktioniert, mit einem zweiten Begriff, den der Mythenforscher und Philosophiehistoriker Hans Blumenberg geprägt hat. Von ihm stammt der Begriff der „absoluten Metapher“. Unter solchen verstand er jene, die unser Weltverhältnis regeln.[iii]


Beispiele: Im Mittelalter redeten die Gelehrten vom lesbaren „Buch der Natur“, der errechenbaren „Uhr des Kosmos“, dem erstrebenswerten „Licht der Wahrheit“. Und selbst noch in unserer Zeit reden manche Geisteswissenschaftler von der „Lesbarkeit der Welt“.[iv]


Blumenbergs „absolute Metaphern“ zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht durch Begriffe und Begriffssprache einholbar sind. Stets gibt es einen Überschuss oder Rest. Sie wollen mehr ausdrücken als einfache Metaphern wie „Achill ist ein Löwe“, oder „Eine Zigarette ist ein Sargnagel“.


„Absolute Metaphern“ sind verwortete unverwortbare Sprachbilder. Ihr Zug zum Absoluten besteht in ihrem Willen, den Daseinszusammenhang als Ganzes umgreifen zu wollen. Das „Buch der Natur“ hat weder Anfang noch Ende, ist überall und nirgendwo. Und dennoch hatte es im mittelalterlichen Diskurs sehr konkrete Funktionen.


Blumenberg benennt derer zwei: Erstens vergegenwärtigen „Absolute Metaphern“ die Totalität der Welt, machen aus ihr ein Ganzes, stellen den großen Zusammenhang her, schließen den Horizont unserer Erfahrbarkeit auf. Zweitens bieten sie Orientierung; wie jenes Ganze anzupacken sei, wie man sich darin bewegen kann und soll, welcher Platz einem darin zukommt, ob dieser Platz gewechselt werden kann – all dies sind existenzielle Orientierungsfragen, auf die „Absolute Metaphern“ antworten.


Metaphorologie ist für mich hier aus folgendem Grund interessant: Durch die damit verknüpften Überlegungen kann ich Ihnen meine erste These vorstellen: Hans Blumenberg hat für „Absolute Metaphern“ gesagt, dass sie auf unser kollektives Weltverhältnis zugreifen. Ich glaube nun, dass die Bilder von Barnett Newman – was schon durch ihre Titel ausgedrückt ist – auch Metaphern sind, die auf unser individuelles Selbstverhältnis zugreifen. Newmans „Absolute Emotion“ betrifft die emotionale Verfasstheit des Betrachter-Ichs, dessen affektive Imagination. Es geht, anders ausgedrückt, um die emotionale Selbstbehauptung – einmal durch Farbe und einmal durch Bewusstsein – des Bildes und des ihm entgegengestellten Betrachters.


Hierin liegt meines Erachtens die Antwort auf die süffisant-rhetorische Frage im Schlusssatz von Newmans 1969er Art Now: New York-Artikels: „Why should anybody be afraid of red, yellow and blue?“[v]


Aber zurück zur Neuen Nationalgalerie.


Während dieser 30 Minuten, in denen einige Besucher schon eher auf mich und meine exzessive Betrachtung als auf das Betrachtete selbst aufmerksam wurden, fand ich zum Bild einen Zugang, oder vielmehr: einen Eingang. Die Ladung meiner ästhetischen Erfahrung – wenn es erlaubt ist, diesen verbrauchten Begriff noch einmal zu bemühen – auf die ich gleich komme, hat mich lange beschäftigt. Und, wenn ich in der Retrospektive darüber spreche, ist der Zu- und Eingang natürlich immer schon als vergangener verzerrt, wenn nicht versperrt. „Spricht die Seele“, sagt Schiller, „so spricht ach! schon die Seele nicht mehr.“


Changiert dieser Sinnspruch nun irgendwo zwischen Grund und Ausrede, erkauft er mir vielleicht doch das Recht für Sie und mit Ihnen zu spekulieren über Who’s afraid of Red, Yellow and Blue IV.


In der Nationalgalerie zu Berlin also.


Wie es meine Art ist, nährte ich mich dem Bild soweit es ging bis auf einige Dutzend Zentimeter, und nahm dann wieder mehr Abstand von einigen Schritten, die Entfernung je verändernd (hinter mir stand dabei eine Wand, die die Gehweite begrenzen musste); weil das Gemälde auch sehr groß ist – und das gehört zu seinem Charme und seiner, wie Kandinsky sagen würde, ‚inneren Notwendigkeit’ –, ging ich zudem stets von rechts nach links und modulierte auch hier die Distanz zu ihm. Manchmal blieb ich auch ganz stehen und starrte nur auf die Leinwand.


Überhaupt war das „Starren“ – und nicht etwa allein das „Sehen“, nicht das „Schauen“ oder „Blicken“ oder „Beobachten“ – ein für mich entscheidender Ansichtsmodus.


Ganz allmählich begann ich zu spüren – nicht zu wissen oder gar zu begreifen, vielleicht aber zu ahnen – was Lyotard meinte, als er über dieses Bild schrieb, es sei „Farbe ohne Form“ und dass diese drei so bespielten Grundtöne „auf die Möglichkeit der Formlosigkeit hindeuten, auf eine Leere, die zugleich voll ist“[vi]. Was mich an- und erfasste, war Das Rot, und Das Gelb.


Im Nachhinein wurde es mir eine körperliche Gewissheit ( – dazu gleich mehr –), was Kandinsky über die leibliche Wirkung der Farbe sagt:


Und ebenso, wie das physische Gefühl der Kälte des Eises, wenn es tiefer eindringt, andere tiefere Gefühle erweckt und eine ganze Kette physischer Erlebnisse bilden kann, so kann auch der oberflächliche Eindruck der Farbe sich zu einem Erlebnis entwickeln.[vii]


Aber, nicht wie bei Kandinsky, dem es letztlich um eine Farbharmonie ging, schien zwischen Dem Rot und Dem Gelb ein Kampf zu toben. Das Blau musste in der Mitte Schiedsrichter – nicht aber Vermittler – spielen.


Ein wichtiger Grund für letzteres: Das Blau ist nicht einfach eine (Trennung)Linie, wie man vielleicht denken könnte. Es ist ein eigenständiges Feld. Diese Stellung wird durch David Sylvesters Anmerkung in einem Interview mit Newman ganz klar, wenn er – was Newman bejaht – ausführt:


Let’s consider the paintings with the narrow lines. You never think of this vertical as a line; you think of it as a narrow band of color. This, I take it, means that among other things you don’t think of it as a line traversing a field but as a field between two fields.[viii]

Aber wieder zurück. Zurück zu meinem Starren: Es stellte sich ein Tunnelblick ein. Konturlos vibrierende Rundungen ergaben sich, die eine enorme Sogwirkung zu entfalten begannen. Immer im höchsten Moment, da mir fast übel wurde von der Geschwindigkeit, mit der die Rote Farbe an mir sich labte und mich leer saugte, wurde sie abgelöst von ihrem Pendant, ihrem Gegner und Widersacher. Über Das Blau hinweg, welches ich mit meinem Blick weniger passieren als mehr überqueren und so beschreiten musste, hatte mich Das Gelb dann wieder vereinnahmt. Sein Tunnel war nicht so heiß, brennend, schwelend, engend wie der Des Rot. Größere Weite stellte sich mit ihm ein, und die kühlende Wirkung Des Blau wurde noch länger konserviert, die Kleinheit seines neutralen und neutralisierenden Schattens länger präsent, wenn ich den viel sanfteren Sog Des Gelb durchwanderte; hier waren die Innenwände weniger sengend, aber doch umso blendender. Sie schienen mir mehr offenherzig, horizonthaft, weniger verlangend, permeabler, nicht so wuchtig und anders zudringlich, anders eindringlich als zuvor die Des Rot. Jedoch nach kurzer Zeit (es mögen einige Minuten gewesen sein) schwappte Das Rot über meine Augenwinkel wieder herüber und zog, ja schleppte, mich über Das Blau, welchem es nur flüchtig den Passierschein zeigte, um mich sofort wieder einzufangen ins Intensive seines monochromen Innenlebens.


Es waren Momente, in denen die ganze neuzeitliche Euphorie der Subjektphilosophie leiblich erlosch. Es waren Momente, in denen die ganze Durchsichtigkeit und Transparenz, welche man sich so leicht unterstellt („Ich kenne meine Gedanken, meine Wünsche, meine Intentionen“) wie abgetragen oder gar abgekratzt war. Who's Afraid of Red, Yellow and Blue IV okkupierte, usurpierte, annektierte in diesen Minuten, da es mich zwischen seinen Farbfelder hin und her zog und jagte, mein sogenanntes Selbst. Es nahm mir meinen Ort, trat selbst an diesen hin, und gab mir einen anderen zurück; die Orientierung war nicht verloren, sondern der eine Sinn durch einen anderen ersetzt. Die Farbe gab die Richtung, ich folgte ihrem Zug und wehrte mich zugleich.


Später habe ich mich oft gefragt: Wie geht das? Was war dort vor sich gegangen? Und mehr noch: Wie spricht man darüber? Ist Ihnen klar, können Sie nachvollziehen wovon ich gerade geredet habe? Diese Fragen sind nicht rhetorisch.


Vielleicht ist einer der (philosophischen) Gründe, warum mein Selbst so dermaßen affiziert, ja dominiert, von diesem Bild war, nicht in meiner persönlichen, sondern in dessen generellen „Offenheit“ (manche würde weniger vornehm sagen: Schwäche) des Selbst als solchem begründet? Der große Skeptiker David Hume sagte einmal über sein – keineswegs: schwaches – Selbst:


For my part, when I enter most intimately into what I call myself, I always stumble on some particular perception or other, of heat or cold, light or shade, love or hatred, pain or pleasure. I never can catch myself at any time without a perception, and never can observe any thing but the perception.[ix]

Wenn das Selbst, wie Hume in seiner krassen Reduktion uns verkaufen will, ein Bündel von Wahrnehmungen ist, dann bündelte das Bild meine Wahrnehmungen, und mit ihm mein Selbst. Dennoch: ganz kann er nicht recht gehabt haben (mindestens, wenn ich diese Bild-Situation einmal als Beispiel weiterverwenden darf). Denn es ging hier nicht nur einfach um eine „Bündelung“, die gleichsam eine Fokussierung gewesen oder vielmehr: geblieben wäre.


Indem das Bild mein Selbstverhältnis durch seine abgründige Präsenz formierte, attackierte es dieses zugleich. Who's Afraid of Red, Yellow and Blue IV schubste mich umher, machte seine Spannung zur meinigen, beugte mich in seine Farbe ein, und wieder in die je andere herüber.


Natürlich, ich hätte jederzeit weggehen können. Aber der Kontrast, die Reibung, die Fehde, Wut und Diskrepanz zwischen den beiden Farbfeldern fesselte meine Aufmerksamkeit – nicht obwohl, wie mir schien, sondern gerade weil sie meine personale Autonomie, meine personelle Einheitlichkeit irgendwie infrage stellte. Irgendwie – und mehr als dieses kann ich leider nicht anbieten – rüttelte das Bild und brachte ins Schwanken, was sonst nicht auffällt und im Alltag ganz ruhig steht oder fließt.


Das Spiel vom Herein- und sodann wieder Herüberziehen in Das Rot und wieder Das Gelb und wieder Das Rot wiederholte sich in den circa 30 Minuten ungefähr ein halbes Dutzend Mal. Was sich so oder so sagen lässt, ist, dass beide Farben, alle drei Farben eigentlich – die immerhin jede für sich einen Grundton darstellen – im Gemälde einen Durchgriff auf mein Selbstverhältnis gewannen. Sie evozierten (erst) und affektierten (dann) das, was im Moment des Betrachtens „Ich“ war, und dadurch jenes „mich als Betrachter“.


Zwar kann ich nur spekulieren – erst recht, da nun nicht mehr das „’Ich’ als Betrachter“ spricht (denken Sie an Schillers Seele). Jedoch, im Nachhinein gewinnt das Who's Afraid of Red, Yellow and Blue IV durch seine Art mich ‚mitzunehmen’, seine eigene Autonomie. Aus Respekt vor der damaligen Erfahrung als Betrachter, muss ich das Bild ernst nehmen. Ihm seine Autonomie zugestehen. Dies ist eine viel tiefere Autonomie als die, welche der Kunst – als System – sonst gegönnt wird. Es ist dies der vollmundige Sinn von „Bildautonomie“, wie Max Imdahl ihn gemeint hat.[x] Erst in dieser Situation ihrer und unserer Modernität, entfaltet die so „autonomisierte“ Kunst ihre Macht: ein bestimmtes Bewusstsein zu „erwecken“[xi].


Newmans „Absolute Emotion“ ist genau in dem Sinne „absolut“, als ihm entspringende Kunst ihr jeweils sie empfindendes Subjekt zuallererst hervorbringt. Allererst hervorbringt heißt hier natürlich nicht als Mensch oder als Person. Sondern nur als Betrachter.


Eingeführt wird also eine neue Modalität des Selbst. Die leibliche Seh-Erfahrung wird kognitive Selbst-Erfahrung. Wie haltbar sie ist, ob sie das Gesamtgefüge beeindrucken kann, mag von hoch- und höchstindividuellen Faktoren abhängen (bisherige Kunsterfahrungen, verschiedene Persönlichkeitsmerkmale, Aufmerksamkeitsspanne, Tagesform etc.); mindestens genauso stark werden soziologischen Faktoren wie Geschlecht, Alter, Bildung, familiäre Herkunft etc. ins Gewicht fallen.


In jedem Fall aber erweist sich die Analogie von vorhin als gerechtfertigt. Wenn die „Absolute Metapher“ nach Blumenberg unser Weltverhältnis regelt, dann tun „Absolute Emotionen“ nach Newman dasselbe für unser Selbstverhältnis.


In Who's Afraid of Red, Yellow and Blue IV schießen Sehen, Denken und Fühlen wie Kristall zusammen, und dann wieder auseinander. Die dabei entstehende Erfahrung jedoch ist aber nicht in sich homogen – auch wenn die Farben monochrom sein mögen. Die Leere des Bildes ist gefüllt. Aber diese Füllung wiederum ist keine harmonische, friedliche.


Die Gruppe um Newman, die New York School – zu der Maler wie Willem de Kooning, Jackson Pollock, Mark Rothko, Clyford Still und andere gehören –


[T]hey start with the chaos of pure fantasy and feeling, with nothing that has any known physical, visual, or mathematical counterpart, and they bring out of this chaos emotion images that give these intangibles reality. [...] [T]he struggle is to bring out from the nonreal, from chaos of ecstasy something that evokes a memory of the emotion of an experienced moment of reality.[xii]

Das Selbst dieses „Betrachter-Ich“, wie es in der Seh-Erfahrung entsteht, ist geboren aus einem Kampf, einem „struggle“.


In seinen Bemerkungen zu den Gründen, warum amerikanische College-Studenten Kafkas Humor nicht verstehen, sagt David Foster Wallace:


„It’s not that students don’t ‚get’ Kafka’s humor but that we’ve taught them to see humor as something you get – the same way we’ve taught them that a self is something you just have. No wonder they cannot appreciate the real central Kafka joke: that the struggle to establish a human self results in a self whose humanity is inseparable from that horrific struggle.“[xiii]

Das Selbst, genau wie das kulturelle Imaginäre insgesamt, hat eine „konfliktuelle Struktur“[xiv]. Es ist in sich antagonistisch. Das Selbstverhältnis des Betrachter-Ich, wie es von Who's Afraid of Red, Yellow and Blue IV „erweckt“ wird, kennt das Gegenspielen, Drücken und Zerren, das Hin-und-Her, das Sich-selbst-gegenübertreten-und-nicht-damit-einverstanden-sein.


Diesen Umstand hat auch Imdahl übersehen. Zwar war ihm noch klar, dass Newman in seinen Bildern „jedwede Komposition als eine Form der Harmonisierung von Gegensätzen verweigert.“[xv] Verschlossen blieb ihm jedoch die Einsicht in jenes Wie?, durch das allein dem Betrachter-Ich das „Erlebnis des Erhabenen, das sich mit einer neuen Erfahrung und Erhöhung des eigenen Selbst“ verknüpfen lässt.


Sie, die sublime Exaltation, ist der entscheidende emotionale Vorlauf, die es braucht, damit der „Aufruf zur menschlichen Selbstständigkeit, Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung“[xvi] eingelöst werden kann.


Imdahl erkennt zwar das „dynamische Kontinuum“[xvii] in welchem die Farben aufeinander reagieren. Allein, die Größe und gleichzeitige „antikompositionelle Binnenstruktur“[xviii] der Bilder hat ihn dazu verführt zu behaupten:


Der Beschauer findet sich in der konkreten Situation räumlicher Desorientierung und Ortlosigkeit, und diese folgt daraus, dass [...] der Beschauer das Ganze niemals simultan, dass heißt niemals mit einem Blick erfassen kann.[xix]

Er rechnet mit einem gänzlich bewegungslosen Betrachter. Was Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV, wie die anderen Bilder der Serie auch, aber fordern, ist die Bewegung – vor ihnen, mit ihnen und in ihnen. Erst durch die Bewegung ‚wird die Desorientierung gemildert und die Ortlosigkeit verschwindet. Während das Bild stillhält, müssen wir wandern, um es zu erfassen. Gerade weil es so groß ist, wird das Betrachter-Ich empirisch mehrere Winkel ausprobieren, von hier nach dort wechseln, herumlaufen; epistemisch gesehen, wird dabei „die Perspektive gewechselt“, so dass die Spannungen zwischen ihm und der bemalten Leinwand abgefedert oder angeschärft werden. Imdahl jedoch hat sich den Betrachter wie den durch eine Camera Obscura vorgestellt – festgestellt auf eine Position, frei-schwebend, still reflektierend. So beschreibt Imdahl in Anlehnung an Konrad Fiedler sein Konzept des „Sehenden Sehens“ als „ein von allem Vorwissen oder von allen Gewissheiten aus nichtoptischen Erfahrungen [sic] weithin gereinigter Erkenntnisakt“[xx]. „Wiedererkennendes“, das heißt auf Gegenständlichkeit geeichtes Sehen, und Imdahls „Sehendes Sehen“ mögen in ihrem Modus verschieden sein. Ent-körperlicht, ja ver-dinglicht bleibt das Sehen als Art des Wahrnehmens aber alle Mal. Wie später neurowissenschaftliche Ansätze[xxi] zum Sehen als aktivem Prozess, wird zu sehen „kognitiviert“. Man sieht ‚mit dem Gehirn’. Bestenfalls noch ‚mit dem Geist’. Produziert wird das Wahrgenommene also stets immer entweder durch das eine, oder durch das andere: entweder Gehirn oder Geist.


Es gilt genau zuzuhören. Hier werden Bilder vom Betrachter gemacht. Gehirn und Geist werden zu Chiffren für das Ganze seiner Erfahrung, zu Metaphern. Und wie jedes solcher (Sprach)Bilder verdecken sie auch etwas, stilisieren, und lassen weg. Neuro-kognitive Ästhetik, um diesen umständlichen Ausdruck zu bemühen, findet sich meines Erachtens auch in Imdahl. Wie seine Vor- und Nachfolger, abstrahiert er (vielleicht zu) stark. Und zwar vom Zusammenspiel, dass sich notwendig zwischen Raum, Ding und Körper ereignet.


Erlauben Sie mir noch für eine weitere Sekunde die Flucht in den Fuchsbau philosophischer Theorie und Terminologie. Nur so lässt sich nämlich, fürchte ich, mein Einwand adäquat darstellen.


Nach Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung kann man wissen, dass „die Einheit des Gegenstandes nicht zu erfassen [ist] ohne Vermittlung leiblicher Erfahrung“[xxii]. So sind „Raumwahrnehmung und Dingwahrnehmung nicht zwei voneinander verschiedene Probleme“[xxiii]. Im Gegenteil. Mittels des vereinheitlichten „Körperschemas“ – „als Gesamtbewusstsein meiner Stellung in der intersensorischen Welt“[xxiv] – werden „Ding und Welt mir gegeben mit den Teilen meines Leibes“[xxv]. Das „erstaunliche Ineinandergreifen von Sehen und Bewegung, an das man nicht genug denkt, verbietet es, das Sehen als Denkoperation aufzufassen“.[xxvi] Lähmender Statik entkommen, wird das Betrachter-Ich unter leibphänomenologischen Prämissen ein anderes. Es wird bewegungsvoll und -froh, und dadurch empfindungsreich und -tief.


Geschieht jene empfindende Bewegung als bewegte Empfindung vor dem Bild und so in dem Bild und erst jetzt mit dem Bild, wird klar, wie Merleau-Ponty es gemeint hat: „Die Kunst und namentlich die Malerei schöpfen aus jener Schicht unverarbeiteter Sinneserfahrungen, von der das [rein] aktivistische Denken nichts wissen will.“[xxvii] Das Spüren des Leibes, das Sehen des Bildes, und die Bewegung im Raum sind Teile von ein und demselben Prozess. Er führt zu einer „Verankerung des aktiven Leibes in einem [Kunst]Gegenstand“[xxviii].


Durch seine verschiedenen Stufen hindurch schreibt Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV dem Beschauer seine antagonistische Struktur ein, und zwingt sie ihm auf. Der Kampf mit dem Bild – seiner Metaphorik, seiner Hermetik, endlich seiner schieren Betrachtung – wird zum Kampf im Bild – zwischen Dem Rot und Dem Gelb mit Dem Blau als Schiedsrichter –, der sich schließlich zum Kampf im Betrachter steigert und emotional in diesen übersetzt. Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV lehrt den Beschauer nicht die Angst sondern das Fürchten; es impft ihm ein diffuses Gefühl der Gespaltenheit ein, der Uneinigkeit, eine Unruhe des Selbst als einem nie mit sich identischem Verhältnis.


Meiner Ansicht nach besteht Newmans malerische Leistung genau darin: Kunst geschaffen zu haben, die die Unmöglichkeit der Selbstversöhnung ‚auf die Leinwand bringt’. Mindestens könnte dies die Anfeindungen ihr gegenüber zum Teil erklären. Was aber eine zweite Konsequenz aus einer solchen negativen Dialektik sein könnte, ist die Behauptung wechselseitiger Autonomie. Der Anspruch, den Imdahl Newmans Bildern attestiert, ist gerechtfertigt. Sie wollen den Beschauer emanzipieren. Doch ist die Art und Weise, wie sie dies tun, eben eine, die nur durch das behaupten ihrer eigenen Bildautonomie funktionieren kann. Personale und piktorale Autonomie verschränken sich im Akt des Betrachtens.


„Meine Freiheit endet dort, wo deine beginnt“, heißt es im Volksmund. Was dieser metaphysische Freiheitsbegriff dann letztlich heißt, wie er sich ausbuchstabieren lässt, zeigt sich nur in seiner Verdopplung: meiner Freiheit gegen deine Freiheit. Das Bild muss als autonomes anerkannt werden, vielleicht sogar so, wie wir ein anderes Ich anerkennen würden – mit all seiner Unverständlichkeit, Opazität, und Hermetik. Ist diese aber dann doch nur metaphorische Übertragung einmal geleistet, d.h. hat der Beschauer sich einmal ‚eingelassen’, kann er ‚erweckt’ werden, und einen Sinn für den Kampf entwickeln, der in seinem Geist an der Schwelle von Bewusstsein zu Selbstbewusstsein tobt.


Aber all dies ist genausgut Metaphysik wie Mystik. Niemand kann ins Betrachter-Ich hineinschauen, und wenn die 30-Sekunden-Durschnittsbetrachtungsregel stimmt, bleibt all das sowieso obsolet und nur ein weiter Schwall „provinzieller Kunstwelt-Rhetorik von halbverdauten Zitaten, dubiosen kunsthistorischen Analogien, und triumpfhaft gelösten ‚Problemen’“[xxix].


Sei dies wie es sei. Was bei Newman so oder so bleibt, ist, so glaube ich: die Farbe.


Die Farbe und ihre Fläche ist, anders als bei Mondrian oder Alexander Rodtchenko, kein Symbol oder gar eine Idee; sie ist nicht das Derivat einer bestimmten Geometrie. Beide – Symbol und Idee – wären eigentlich tot, weil mit sich identisch und in sich geschlossen. Die Farbe bleibt bei Newman Farbe weil gerade diese Grundsätzlichkeit sie als Differenzphänomen auftauchen lässt; meine Erfahrung mit ihr blieb nachhaltig, weil die Farbe als Farbe (mir gegenüber, ganz persönlich und intim) Anspruch auf ihre eigene Autonomie erhob – in meinem damaligen Jetzt in der Nationalgalerie, wie im heutigen Später hier vor Ihnen an der Kunstakademie zu Münster. Nur durch diesen pochenden Anspruch, die bodenlose Behauptung lies ich mich und sie sich vor- und zurückbewegen.


Um im letzten Satz mein Pathos ganz aufzubrauchen und den Teller leer zu machen: Nur durch diese antagonistische Selbst-Behauptung der Farbe als Farbe bekam Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV meines Erachtens die Chance, seine Metaphorik der Wirklichkeit anzugleichen – und so den Traum der Kunst überhaupt ein Stückchen mehr zu erfüllen: nämlich das Leben selbst zu werden.


 

[i] Rosenberg, Barnett Newman, p. 24. [ii] Newman, Selected Writings, p. 258; meine Hervorheb. [iii] Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. [iv] Garz, Die Welt als Text. [v] Newman, Selected Writings, p. 192. [vi] Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, p. 160. [vii] Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst [10. Aufl.], p. 59. [viii] Newman, Selected Writings, p. 255f. [ix] Hume, Treatise of Human Nature [1739], p. 252; Hervorheb. im Orig. [x] Imdahl, Bildautonomie und Wirklichkeit. [xi] Imdahl, Moderne Kunst und visuelle Erfahrung, in: Zur Kunst der Moderne, Gesam. Schriften Bd. I, p. 328-340, hier p. 328. [xii] Newman, Selected Writings, p. 163. [xiii] Wallace, Some remarks about Kafka, p. 65. [xiv] Ricouer, Ideologie und Utopie, In: Vom Text zur Person, p. 135-152, hier p. 135. [xv] Imdahl, Barnett Newman, ‚Who’s Affraid of Red, Yellow and Blue III’, in: Zur Kunst der Moderne, Gesam. Schriften Bd. I, p. 244-273, hier p. 251. [xvi] Imdahl, Barnett Newman, p. 248. [xvii] Imdahl, Barnett Newman, p. 258. [xviii] Imdahl, Barnett Newman, p. 267. [xix] Imdahl, Barnett Newman, p. 253. [xx] Imdahl, Bildautonomie und Wirklichkeit, p. 14. [xxi] Changeux, Art and Neuroscience; Clausberg, Neuronale Kunstgeschichte; Zschocke, Der irritierte Blick. [xxii] Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, p 239. [xxiii] Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, p. 178. [xxiv] Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, p. 125. [xxv] Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, p. 241. [xxvi] Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, p. 16. [xxvii] Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, p. 14. [xxviii] Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, p. 125f. [xxix] Rosenberg, Barnett Newman, p. 25.





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